Bei den Palavern geht es nicht darum etwas schlaues beizutragen und dann gut dazustehen, sondern um zuzuhören oder zu sagen, was einen wirklich bewegt. Das kann ein Wagnis sein, aber es beinhaltet die Chance, sich selbst näher zu kommen und gewahr zu werden. So kann Verbundenheit und Gemeinschaft entstehen.
In der Rundmail hatte ich formuliert: Ich habe mich lange etwas gescheut, das Thema Sex zu nehmen. So ist es halt. Das Thema ist machtvoll und ruft Unsicherheit auf den Plan.
Also ist es wichtig.
Lustvoller Genuss von Sex ist auch heute noch kaum angesagt. Immer noch spielen Scheu und Scham, Zurückhaltung und Verteufelung eine Rolle. Sicher hat sich seit der Vertreibung aus dem Paradies einiges geändert, ob das aber so grundsätzlich war, ist die Frage.
Im Galater Brief steht: Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten.
Damit ist das ganze Elend vieler Anschauungen umrissen. Was eigentlich zusammengehört, wird getrennt in Gutes und Schlechtes. So lernen wir, eine Teil unserer selbst zu bekämpfen und nicht das Leben zu lieben, sondern auf das ewige Leben zu hoffen.
Es käme darauf an, alle unsere Teile anzunehmen. Nichts daran ist per se schlecht. Es ist uns gegeben. Sexualität als Geschenk und als Schicksal. Im Sinne von Fritz Perls: Alle Teile von uns, alle Triebe und Emotionen, die „dunklen“ wie die „hellen“, als Teil von uns zu akzeptieren, sie zu kultivieren, sie in unser Bild von uns selbst zu integrieren, um so zu einer Gesamtgestalt zu kommen: daher der Name Gestalttherapie.
Tun wir das nicht, so wirken diese Kräfte im dunklen weiter, oft eben destruktiv.
Verdrängung, Verbot oder auch weisheitsvolles über den Dingen schweben haben hier noch nie geholfen. Das katholische Kirchenpersonal hat es uns oft deutlich vorgeführt.
Freud ist skeptisch, ob es uns gelingen kann, unsere animalischen Anteile zu integrieren: „Je mehr die Kultur sich entwickelt, umso mehr sublimiert der Mensch, umso mehr aber frustriert er auch seine ursprünglichen libidinösen Triebe. Er wird weiser und kultivierter, aber in gewisser Hinsicht auch weniger glücklich, als es der Primitive war, und er neigt stärker zu Neurosen, welche die Folgen eines zu starken Triebverzichts sind. Der Mensch wird unzufrieden mit der von ihm selbst geschaffenen Kultur.“
Offensichtlich ist sexuelle Begierde eine große Macht, die auch an Stellen wirkt, wo wir es nicht haben wollen. Mehr noch als bei anderen Trieben kann das Gefühl von Ausgeliefertsein entstehen.
Das passt nicht in unsere Zeit, wo es gilt, nicht nur die äußere Natur zu kontrollieren und zu verwerten, sondern auch die Innere, zumal die allzu animalischen Anteile. Müssen wir uns für eine Seite entscheiden? Entweder völlige Unterwerfung unter die Natur („die Primitiven“) oder völlige Beherrschung (moderner Fortschrittsglaube). Vielleicht liegen wir falsch mit einer verbreiteten schlichten Logik, nach der nur eins wahr oder richtig sein kann. Findet das Leben seine Möglichkeiten nicht gerade im Dazwischen?
Sich eben gerade nicht radikal für eine Seite entscheiden: die grundsätzliche Zugehörigkeit zur Natur und also Abhängigkeit akzeptieren, aber auch: aktiv mitgestalten, kooperieren, kultivieren der eigenen Triebe. Hartmut Rosa, dessen Buch “Resonanz“ ich empfehle, als Einstieg auch: „Unverfügbarkeit“, hat dafür den Begriff Semi-Passivität gewählt. Semi-Aktivität ginge auch.
Die (hier: eigene) Natur als Gegenüber, die einem etwas zu sagen hat, der man aber auch antworten kann.
Fazit: nichts ist per se schlecht oder verdammenswert, aber auch nicht wundervoll oder gleich göttlich. Willkommen mit Allem. Wir sind (alle) Menschen. Wir können damit umgehen und die beste Version von uns selbst entfalten.
Wilhelm Reich, auch in der Nachfolge von Freud, hat die Schöpferkraft der Sexualität hervorgehoben. Für ihn war es die lebensspendende Kraft schlechthin. Eine Unterdrückung von Trieben und Gefühlen manifestiert sich nach ihm auch in der Körperhaltung. Gebeugt, die Schultern gesenkt, belastet. Auch heutige Körperarbeit als Therapie, bei der versucht wird, durch Auflösung muskulärer Verspannungen verschüttete Gefühle freizusetzen und damit bearbeitbar zu machen, geht so meist auf W. Reich zurück. Einer der bekanntesten Nachfolger war Alexander Lowen mit seiner Bioenergetik. Es ist der Versuch, wider mit seinem Körper zusammenzukommen und die Energie wieder fließen zu machen.
So sehr sich die sexuelle Misere auf der individuellen Ebene zeigt, so sehr ist es jedoch auch ein Problem der gesamten Gesellschaft, des Gesellschaftscharakters, der die individuellen Charaktere stark beeinflusst.
Jared Diamond stellt in seinem Buch „Warum macht Sex Spaß“ fest, dass wir die einzige soziale Art sind, bei der Sex im Verborgenen stattzufinden hat. Das ist für mich jedoch keine biologische Gegebenheit, weil es auch menschliche Kulturen gab, in denen das nicht der Fall war.
Jetzt kann man heute sagen: aber ansonsten gehen wir doch heute sehr freizügig mit Sex um. Pornographie und Prostitution sind jedoch für mich eher pervertierte Ventile. Alles, was zu Geld zu machen ist, was eher mit Konsum zu tun hat, setzt sich in unserer Gesellschaft letztlich durch, solange Form und Kontrolle möglich bleiben.
Auch die eheliche Pflicht mit ihrem Versuch, in der patriarchalen Familie das wollüstig weibliche zu zähmen, ist nicht lange her. Von einem versöhnlichen und lustvollen Umgang der Geschlechter miteinander sind wir auch heute noch weit entfernt. Sexuelle Gewalt, Massenvergewaltigungen in Kriegszeiten, Genitalverstümmelungen sprechen eine andere Sprache. Lässt sich das Problem allein durch mehr Benennung und Öffentlichkeit und Bestrafung der individuellen Täter lösen? Gibt es Grenzen einer Befreiung der Lust, weil sonst vielleicht Nötigung, Belästigung und Übergriffigkeit überhandnehmen?
Die Frage ist, ob nicht durch den Charakter unserer Gesellschaft und eine verbreitete sexuelle Misere solche Verhaltensweisen erst generiert werden. Weil das Miteinander grundsätzlich nicht mehr funktioniert.
Und weiter: ob nicht auch Kriegslust, die Unterwerfung und Ausbeutung der Natur, der Kampf der Geschlechter gegeneinander durch den Charakter unserer Gesellschaft bedingt sind. Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm äußern in ihrem Buch: „Und sie erkannten sich. Das Ende der sexuellen Gewalt“ die Hoffnung, dass mehr Erfüllung in der Sexuellen Liebe umgekehrt auch den destruktiven Charakter der Gesellschaft verändern könne. Sie praktizieren freie Liebe seit 40 Jahren und sind paarmäßig verbunden. Wie problematisch es sein kann, Sexualität in einer Zweierbeziehung einzusperren, das hatten wir schon beim Thema Paarbeziehung. Ist halt nicht einfach. Der Regisseur des berühmten Dreiecksdramas „Jules und Jim“ soll gesagt haben: „Monogamie funktioniert nicht. Alles andere ist noch schwieriger.“
Könnte die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht so entspannt sein, dass man ohne Probleme fragen könnte: „Wie wäre es mit Körperkontakt oder Sex“, und dann zur Antwort bekäme: danke für dein Interesse. Und: nein. Oder: ja, bis dahin. Oder: können wir ausprobieren, ich weiß noch nicht bis wohin. Oder: aber ja doch, gerne.
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