Palaver 21 Mündigkeit
Zu Konzept und Ablauf der Veranstaltung s. Palaver 19
Es gibt eine Art von Mündigkeit, die einem ab einem bestimmten Alter zugeschrieben wird. Mit Volljährigkeit ist man wahlberechtigt, geschäftsfähig oder auch strafmündig. Ich nenne das mal angenommene Mindestmündigkeit. Auf allen anderen Feldern ist Mündigkeit wohl eher ein Ziel.
Ob es darum geht, für sich selbst zu sprechen und zu handeln, weil man vorher für sich selbst gedacht hat, oder um einen verantwortungsvollen Umgang mit anderen Menschen und der Welt, in den Zusammenhängen ist immer wieder von Verantwortung die Rede: Selbstverantwortung, soziale Verantwortung.
Wenn aber heute in der Politik jemand die Verantwortung übernimmt, weil er vorher Scheiße gebaut hat, dann ist das ziemlich leer und folgenlos. Es reicht, wenn er eine Antwort weiß auf die Frage, warum er das gemacht hat. Rücktritt oder Verantwortung vor Gericht kommt kaum noch vor.
Das Bild, das wir von uns selbst haben, unser Selbst, wird geprägt von dem, was uns in unserer Kultur und ihren Institutionen begegnet und insbesondere durch unsere Eltern vermittelt wird. Sozusagen zwangsläufig ein Ausgangszustand, der manchmal auch als primitiv oder als Ausgangspunkt unserer Mündigwerdung angesehen wird. Das dürfte jedoch selbst im kindlichen oder jugendlichen Alter nicht so ungefiltert und ohne Rebellion oder emanzipatorische Momente passieren, während andererseits „Erwachsene“ vielleicht ihr Leben lang über diese Erstausstattung nicht hinauskommen. Auch weil es ihnen einfach zu mühsam ist und der Wunsch vorherrscht, in Eliten und Autoritäten zu vertrauen und sich aufgehoben zu fühlen. Alles auch verständlich und von großer Wirkmacht.
Der Theologe Bonhoeffer, der im 3. Reich hingerichtet wurde, schildert für diese Zeit gerade für Mitläufer, also auch intelligente Akademiker, dass sie bewusst und frei gewählt auf bestimmte Dinge nicht geschaut und nicht kritisch reflektiert haben. Er nennt es funktionale Dummheit.
Man muss sich ja klar machen, dass auch die heute als die bösen Täter dargestellten von ihrer Mission überzeugt waren und als die Guten gegen die Bösen gekämpft haben, also damals die Juden und die Russen, und so auch die Mehrheit auf ihrer Seite wussten. So konnten sie verantwortliches Handeln und Sorge um das Gemeinwohl für alle einfordern.
Die Lehre aus dieser Zeit sollte jedoch sein, dass in Zeiten angstbesetzte Krisen, ob real oder herbeigeredet, sich Menschen leicht für Machtinteressen manipulieren lassen. Zur Aufarbeitung dieser Zeit müsste sich eigentlich jeder selbst den Spiegel vorhalten und fragen, wieweit es mit der eigenen Mündigkeit ist. Jedenfalls hatte ich zu Zeiten der Coronapolitik den Eindruck, dass ähnliches sich leicht wieder ereignen kann. Kritisches Nachdenken und verantwortliches Handeln gehören ja eigentlich zusammen. Dass sog. Linke dann dazu gebracht werden konnten, kritische Geister pauschal als Nazis zu beschimpfen, fand ich schon widersinnig und beängstigend.
Angepasste sind in unserer Gesellschaft gut eingebettet. Sie können sich an der Mehrheit orientieren, gleichzeitig aber nach Individualität und Einzigartigkeit streben, sich selbst optimieren, ihre Möglichkeiten positiv sehen, Spaß und Abwechslung haben. Dass hier vorgefertigte Rollen angeboten werden und der Lebensstil trotz unüberschaubarer Wahlmöglichkeiten geprägt und eingeengt ist von Egoismen, Konsumorientierung, Suche nach Status und Anerkennung, sozialer Verödung usw. und in hohem Maße zerstörerisch für uns und die Welt ist, wird oft nicht bewusst.
Das mit der Einbettung, das soll auch so sein. Die Psychologie hat in den letzten 100 Jahren immense Fortschritte bei der Beeinflussung des Unbewussten gemacht, am Anfang noch unverhohlen auch gegenüber der eigenen Bevölkerung als Propaganda bezeichnet, heute vielleicht eher als public relations, und es wird hauptsächlich zur Steuerung eingesetzt. Man muss den Menschen ja beibringen, welche Art von Mündigkeit in „unserer“ Demokratie gut ist.
Da bin ich auch skeptisch bei der Erziehung zur Mündigkeit an Schulen. Das ist ja letztlich auch eine Zwangsveranstaltung mit klaren Machtverhältnissen. Stattdessen vielleicht wieder mehr Räume für freies Spiel und freie Begegnung ermöglichen?
Paradox scheint mir in dem Zusammenhang, dass gerade die Selbstüberhöhung des Menschen und seine einseitige Identifikation mit dem Bewusstsein ihn anfälliger machen kann für Propaganda, weil er sich ja einbildet, allein das zu sein, wofür er sich hält. Sähe er sich als Naturwesen mit Gegebenheiten, dann limitiert das auf den ersten Blick die Möglichkeiten. Es stellt jedoch auch eine Verortung dar in der Natur und lässt uns mit allen Lebewesen verbunden sein. Das kann auch ein Fundament sein für die eigene Identität und von dem Zwang entlasten, unter 50 Lebensstilen wählen zu müssen und sich überfordert zu fühlen.
Felder, bei denen von Mündigkeit gesprochen wird:
In unserem Krankenbehandlungssystem ist vom mündigen Patienten die Rede und von ethischen Fragen. Meist geht es jedoch um den informierten Patienten, der dann etwas unterschreiben muss, damit der Arzt rechtlich abgesichert ist. Wer blickt da aber schon durch bei Risiken und Folgen. Auch hier sind Patienten oft froh, wenn sie nicht selbst gefordert sind, sondern sich dem überantworten können, was üblicherweise gemacht wird.
Ethische Fragen tauchen erst auf, wenn ein Arzt etwas Abweichendes für gut hält oder man sich in seiner Menschlichkeit im Medizinsystem gar nicht mehr wiederfindet. Das verlangt aber auch eine anspruchsvolle Antwort auf die Frage, wer ich sein will und wie ich leben will. Will ich wirklich im Alter wie im Durchschnitt 8 verschiedene Medikamente schlucken? Da muss es nicht mal gleich um Herztransplantation gehen.
Und ja, die Medien.
Da geht es einmal um die Überverbundenheit mit einem System, das den notwendigen direkten Umgang mit der Welt verhindert.
Das andere ist die Frage, was wir da eigentlich laufend für einen Input kriegen. Positiv gesehen können wir uns zu allem Informationen besorgen. Aber kann selbst das auch zu viel werden, weil es vielleicht nur noch dazu dient, schlau daherzureden, von einer befriedigenden Lebenspraxis aber eher ablenkt, die ja nicht nur im Kopf stattfinden sollte. Und sind das immer „Informationen“ oder zum großen Teil dahingeschluderte Halbwahrheiten oder bewusst und wiederholt eingesetzte fake-news, die uns lenken und leiten sollen. Oder, fast noch schlimmer, lassen wir uns so mit Belanglosigkeiten zukacken, dass wir am Ende gar nichts mehr wissen und resignieren und Mündigkeit in weite Ferne rückt.Wie soll das erst mit KI werden?
Andererseits gibt es inzwischen vermehrt Texte oder Reden, die zensiert werden, weil sie ungute Dinge bei uns Menschen auslösen könnten. Da geht man offensichtlich nicht davon aus, dass Mündigkeit im Umgang vorliegen könnte.
Die Frage ist, ob unsere Gesellschaft überhaupt in der Lage ist, mit medizinischem und technischen Fortschritt mündig umzugehen? Gleiches könnte man für das politische System fragen. Ist da Regierbarkeit mit Freiraum überhaupt möglich oder werden letztlich nur Rollen gespielt? Wie in der übrigen Gesellschaft auch. Der Fortschritt ist ja oft Selbstläufer, der letztlich bestimmt, wohin es geht, und nicht umgekehrt. Dennoch möchte ich dafür sprechen, nicht zu früh aufzugeben. Es ist der Beitrag, den man aus der Mündigkeit heraus leisten kann: Probleme zu erkennen, Kritik zu äußern und Fragen zu stellen, auch wenn man nicht das Ganze überblickt und nicht zum Hauptstrom dazugehört
